Am Tag vor Karfreitag steht mir dieses Jahr, einen Monat nach dem Besuch in Auschwitz, die Theodizee-Frage besonders vor Augen: die Frage, warum ein allmächtiger Gott Leid zulässt. Sie hat viele Christen im Lauf der Kirchengeschichte beschäftigt. Viele Atheisten schlussfolgern: Gott existiert nicht. – Warum scheint diese Welt manchmal so von Gott verlassen?
Die Asche der Opfer von Auschwitz wurde hinten in den Wäldern verteilt, Gruben und Teiche wurden aufgefüllt. Manchmal verbrannte man Leichen unter freiem Himmel, wenn die Kapazität der Krematorien nicht ausreichte. Es gibt einige wenige illegal gemachte Fotos davon. Und dort, ganz hinten, waren während unseres Besuchs die Pfützen auf den Wiesen immer noch gefroren, obwohl es in den letzten Tage gar nicht so kalt gewesen war. Hier scheint der kälteste Ort auf Erden zu sein. Wo war Gott in Auschwitz?
Ein Theologe hat kürzlich in einem Vortrag über die Sintflut gesprochen. Er hat Gott quasi Völkermord vorgeworfen. Wo war Gott, als unschuldige Menschen starben? Oder ganz aktuell: Eine der wichtigsten Kirchen der Welt steht in Flammen. Notre Dame, mitten in Paris, mitten in Europa. Wo war Gott?
Morgen ist Karfreitag: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!« schrie Jesus am Kreuz. Wo war Gott auf Golgatha? Hat er seinen Sohn verlassen?
Auch wenn sich die Frage nach dem Warum wohl nicht lösen lässt, lüftet das Buch Hiob ein wenig den Blick »hinter die Kulissen«: Gott lässt sich auf ein »Experiment« mit dem Satan ein. Er lässt zu, dass Hiob Leid widerfährt. Hiob selbst bekommt diese Erklärung allerdings nicht. Gott fragt ihn nur: »Willst du mein Urteil zunichtemachen und mich schuldig sprechen, dass du recht behältst?« Gott zeigt ihm: Ich bin größer. Und schenkt ihm dann einen Neuanfang.
Einen ähnlichen Perspektivwechsel verdeutlichen auch diese Verse: »Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.« (Jesaja 55,8–9)
»Hinter den Kulissen« beweist Gott dem Bösen, dass Hiob am Glauben festhält. Mit Noah überlebt ein Gehorsamer die Katastrophe. Das Unheil, das Böse siegen nicht endgültig. Ein Foto aus dem Innern der zerstörten Kathedrale Notre Dame zeigt das Kreuz, das heil geblieben ist. Gottes Gnade hat den längeren Atem.
Während unseres Besuchs sahen wir in Auschwitz junge Menschen aus Israel, die auf ihren blau-weißen Flaggen stolz den Davidstern trugen, zuvor Zeichen der Ausgrenzung in Nazideutschland. Das Böse hat nicht gesiegt. Das Volk Israel lebt und ist – ganz wie der Prophet Hesekiel andeutet – aus dem Totenfeld auferstanden: »Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels.« (Hesekiel 37,12) – Die Israel-Flaggen haben mich zutiefst bewegt, ich habe sie als Zeichen der Hoffnung verstanden.
Und wir haben in Auschwitz auch einen Regenbogen erlebt. Das Zeichen Gottes für den Neuanfang über der Arche. An Karfreitag wissen wir: Es steht wieder ein Neuanfang bevor. Das Grab ist an Ostern leer. Der Tod ist überwunden. Gott ist nicht weggeblieben, nie weggewesen. Das ist die Botschaft von Ostern: Die Gottverlassenheit hat ein Ende!